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Biografie
Ein Phantom der Filmgeschichte: F. H. Lavanchy-Clarke
François Henri Lavanchy-Clarke (1848-1922) gehört zu den phantomhaften Gestalten des frühen Films. Obwohl er in seinen kinematografischen Aufnahmen regelmässig vor der Kamera auftritt, wurde er als schillernder Akteur der Filmgeschichte lange Zeit übersehen.
von David Bucheli

Dass Lavanchy-Clarke überhaupt in den Fokus medienhistorischer Forschung gelangte, ist in erster Linie das Verdienst von Roland Cosandey, Jean-Marie Pastor und Martin Loiperdinger. Sie hatten bereits in den 1990er Jahren auf Lavanchy-Clarkes zentrale Rolle für die Kinematografie in der Schweiz hingewiesen, konnten ihm aufgrund der spärlichen Quellenlage jedoch nur eine Handvoll Filme zuordnen. So galt bis vor wenigen Jahren, was Consuelo Frauenfelder in ihrer Studie über das early cinema in Genf konstatiert hat: «Von allen Persönlichkeiten, die im Universum des frühesten Films ein Gravitationszentrum bildeten, bleibt Lavanchy die am wenigsten fassbare, […] [weil seine] Spur einer untypischen Laufbahn folgt. […] Er erscheint als rätselhafte Silhouette, die einmal ausgemacht, fast allgegenwärtig wird.» (Frauenfelder 2005, S. 38)
Die Erschliessung zahlreicher neuer Quellen und insbesondere die Aufarbeitung von Lavanchy-Clarkes Privatnachlass erlauben nun ein ungleich vollständigeres Bild dieser rätselhaften Gestalt. Paradoxerweise erscheint Lavanchy-Clarke im Spiegel seines umfangreichen Nachlasses nur noch schwieriger zu durchschauen. Seine «untypische Laufbahn» verbindet philanthropische Blindenfürsorge und Filmbegeisterung, Missionarstätigkeit und Bankierskarriere, Unternehmertum und Showmanship, aber auch kosmopolitisches Nomadentum und bürgerliches Familienleben. Die Konstanten seiner Biografie bleiben ein leidenschaftliches, religiös motiviertes Engagement für die internationale Sehbehindertenhilfe und ein «advertising genius» (Leverhulme 1922, S. 120), das Event Marketing mit neuen Medientechnologien wie Kinematografie und Fotografie zu verbinden wusste.
Vom Sanitäter zum Missionar

François Henri Lavanchy wurde am 4. Januar 1848 in Morges geboren. Seine Eltern waren Rebbauern aus dem Lavaux, seine Kindheit verbrachte er in Lutry und La Villette. Nach dem Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges schloss er sich als freiwilliger Felddiakon und Sanitätsfahrer dem Internationalen Komitee des Roten Kreuzes an. Er wurde 1870 bei der Evakuation von Strassburg und später an der Front bei Orléans eingesetzt. Für dasselbe Jahr ist sein Eintritt in die Pilgermission St. Chrischona bei Basel verbrieft, wo er sich zum Missionar ausbilden liess. Nach Aufenthalt als Traktate-Kolporteur in Südfrankreich schiffte Lavanchy sich im Winter 1872/73 in Kairo ein, wo er die Organisation der ägyptischen Blindenfürsorge vorantrieb. So war er massgeblich an der Gründung des ersten ägyptischen Blindenasyls in Kairo beteiligt. Im August 1873 nahm Lavanchy als Delegierter der ägyptischen Blindenmission am Ersten Europäischen Blindenlehrerkongress teil, der anlässlich der Weltausstellung in Wien stattfand. Fünf Jahre später organisierte er während der Pariser Weltausstellung von 1878 einen internationalen „Kongress zur Verbesserung des Looses der Blinden und Taubstummen“. Lavanchy forcierte dabei insbesondere die Vereinheitlichung eines Schriftsystems für Menschen mit Sehbehinderung und gab der Brailleschrift den Vorzug gegenüber Systemen, die sich an der Schwarzschrift orientierten. (Näf 1879, S. 70)
Am Pariser Kongress lernte Lavanchy die Engländerin Jenny Elisabeth Clarke kennen, die er 1879 in Paddington, England, heiratete. Fortan wird er den Doppelnamen Lavanchy-Clarke verwenden. Mrs. Lavanchy-Clarke sowie die gemeinsamen Kinder Marmaduke, Christine, Henry und Bertha treten neben Mr. Lavanchy-Clarke in zahlreichen späteren Filmaufnahmen auf.
Ein „Edison der Blinden“

Als Promotor des internationalen Sehbehindertenwesens ist Lavanchy-Clarke ständig zwischen Basel, Genf, Paris, London, Wien, Amsterdam und Cannes unterwegs. 1881 gründete er in Paris eine Berufsschule für Sehbehinderte. Zu ihrer finanziellen Unterstützung veranstaltete er glamouröse Benefizkonzerte im Palais Trocadéro, an denen internationale Stars wie Sarah Bernhardt, Charles Gounod und Christine Nilsson auftraten. Gemeinsam mit Nilsson erwarb Lavanchy-Clarke die Pariser Schokoladenfirma L. Marquis, um wiederum Gewinne für das Blindenwesen zu erwirtschaften. Parallel dazu investierte er in den Bau und Betrieb von münzbetriebenen Schokoladeautomaten, die zunächst in französischen, später auch in Schweizer Bahnhöfen aufgestellt wurden und die Blindenhilfe querfinanzieren sollten. Sein Erfindungsreichtum brachte ihm anlässlich des vierten Blindenlehrerkongresses in Frankfurt a. M. 1882 sogar einen Vergleich mit Edison ein. (Merle 1882, vgl. Widmung)
Zur Sicherung der Automaten gegen Betrug ersann Lavanchy-Clarke einen besonderen Mechanismus, von dem er später behauptete, er hätte eine ähnliche Vorrichtung den Gebrüdern Lumière für die Konstruktion ihres Kinematografen überlassen. Im Gegenzug soll er von den Lumières die erste ausländische Konzession für Filmaufnahmen in der Schweiz erhalten haben. Für diesen Tauschhandel gibt es keine Quellenbelege ausser Lavanchy-Clarkes eigenen Erinnerungen. Fest steht aber, dass er im Frühjahr 1896 drei Exemplare des Cinématographe Lumière zu Vorzugsbedingen bezog – als erster nicht-französischer Staatsangehöriger (Anonym 1922, S. 89).
Dem Kauf des Lumière-Apparaten ging eine Reihe eigener Experimente mit Bewegtbildfotografie voraus, auch Chronofotografie genannt. Wichtig ist diesbezüglich Lavanchy-Clarkes finanzielles und - nach eigenen Aussagen - auch intellektuelles Engagement im Labor des Chronofotografen Georges Demenÿ nach dessen Entzweiung mit Etienne-Jules Marey, dem nebst Eadweard Muybridge bedeutendsten Pionier der Chronofotografie. Gemeinsam mit seinem Schwiegervater William-Gibbs Clarke, Georges Demenÿ und dem deutschen Schokoladenindustriellen Ludwig Stollwerck gründete Lavanchy-Clarke 1892 die Société Française du Phonoscope, die darauf abzielte, Demenÿs chronofotografische Arbeit für das Hörbehindertenwesen weiterzuentwickeln. Tatsächlich zeigt eine von Demenÿs Chronofotografien niemand anderen als Lavanchy-Clarke, der sich mit einer Bürste aus seinem Pariser Blindenatelier die Schuhe putzt (vgl Abb. oben).
Lavanchy-Clarke als Werbemann
1888 machte Lavanchy-Clarke eine Begegnung, aus der eine lebenslange Freundschaft und berufliche Partnerschaft erwachsen sollte. Auf der Suche nach neuen Geschäftspartnern für seine Automatengesellschaft wurde er in London auf die omnipräsente Werbung für «Sunlight Soap» aufmerksam. In Warrington spürte er deren Hersteller William Lever auf. Beeindruckt von dessen massenproduzierten, qualitativ standardisierten und gebrauchsfertig abgepackten Stückseifen schlug Lever Lavanchy-Clarke eine Zusammenarbeit vor. Er war überzeugt von Lavanchy-Clarkes unkonventionellen Werbeeinfällen, der 1889 schliesslich die erste kontinentale Sunlight-Zweigstelle in Lausanne eröffnete. Um die Marke «Sunlight» mit einem Paukenschlag in der Schweiz (und weit darüber hinaus) bekannt zu machen, lancierte Lavanchy-Clarke am Ostermontag desselben Jahres einen internationalen Wäscherinnenwettbewerb rund um den Genfersee. Auch 1922, in seinem Nachruf auf Lavanchy-Clarke, hat Lever dieses beispiellose Werbespektakel noch in bester Erinnerung:
"His International Washing Competition on Lake Geneva of some 30 years ago attracted laundresses from Paris and most chief towns of France, from London, Berlin, Madrid, Vienna and other cities far too numerous to mention in reasonable limits. The first prize, I remember, was won by a Parisian laundress. Monsieur Lavanchy had hired steamboats on Lake Geneva, and although he had secured every available boat these were all too few to convey the crowds who wished to be present to see the competition as it actually took place in the presence of well-known expert judges. Each steamboat had its brass band and display of flags of all nations and bunting, which, with the cheering, made a great gala day never to be forgotten. Even now, which is over 30 years afterwards, we are continually hearing from or meeting with people who were present at this great spectacular display advertisement, probably the greatest the world has ever produced." (Leverhulme 1922, S. 121)
Kurzschluss von Seifen- und Filmkonsum

1896 schliesslich verband Lavanchy-Clarke Kinematografie und Seifenwerbung in seinem Pavillon Divan des fées an der Genfer Landesausstellung. Es war das erste Mal, dass in der Schweiz Lumière-Filme einem zahlenden Publikum vorgeführt wurden. Mehr noch: Lavanchy-Clarke hatte auch eigene Filmaufnahmen der Landesausstellung produziert und nahm sukzessive weitere Motive aus der ganzen Schweiz ins Programm. Zu sehen bekam das Publikum auch einen instruktiven «Sunlight»-Werbefilm, den Lavanchy-Clarke mit seiner Familie im Garten ihrer Genfer Villa aufgenommen hatte.
Während und nach der Landesausstellung tourte Lavanchy-Clarke mit dem Kinematografen durch die Schweizer Städte und nutzte seine Auftritte gleichermassen für Expo-, Kino- und Seifenwerbung. Jahre später beschrieb er sein Vorgehen in einem Brief an Lever:
„I organized lectures in the morning for the children of the schools. As you remember, each piece of Sunlight had a guarantee mark fixed on it. […] Each child presenting a guarantee mark was admitted free; so a mother having several children had simply to purchase a provision of Sunlight and detach the marks with a knife and to distribute them to her children. On their return home the children praised the cinematograph and their parents were also induced to attend the evening presentations.” (Lavanchy-Clarke, zitiert nach Anonym 1922, S. 90.)
So entstand ein perfekter Kreislauf zwischen Seife und Kinematograf, der Waren- und Bildkonsum untrennbar ineinander verkoppelte. Der Kinematograf funktionierte als Vehikel für den Seifenverkauf, während Seife wiederum als Werbeträgerin für Filmvorführungen diente.
Krisen und Kinematografie als private Erinnerungsform
Im Oktober 1898 eröffnete Lavanchy-Clarke die erste kontinentale «Sunlight»-Seifenfabrik in Olten – wiederum mit einer spektakulären Einweihungsfeier. Hier, am Nullpunkt des Schweizerischen Eisenbahnnetzes, sollte die «Savonnerie Helvetia» schon bald wöchentlich einhundert Tonnen Seife produzieren und in die ganze Schweiz spedieren. Lavanchy-Clarke hatte jedoch Schwierigkeiten, Werbetätigkeit, Kinematografie und Philanthropie mit seiner neuen, zeitraubenden Rolle als Fabrikdirektor zu vereinbaren. Um 1900 quittierte er seinen Dienst für die Helvetia AG unter starken Nebengeräuschen. Gleichzeitig wurde die Familie Lavanchy von einer persönlichen Tragödie erschüttert: Sohn Marmaduke war bei seiner Ausbildung in Levers Fabriksiedlung Port Sunlight an Tuberkulose erkrankt und mit nur 18 Jahren verstorben.
Lavanchy-Clarkes Scheitern als Industrieller trübte die Freundschaft zu Lever nur vorübergehend. Zu eng war die ganze Familie Lavanchy mit den Levers verbandelt, wovon auch die Korrespondenzen von Jenny Clarke und Tochter Christine mit zeugen. Lavanchy-Clarke hatte um 1900 die öffentlichen Filmvorführungen aufgegeben und betrieb die Kinematografie nur noch als privates Hobby. Aus dieser kurzen Zeit sind einige bemerkenswerte «Home Movies» aus dem Garten der Familienvilla in Cannes erhalten. Sie künden eine neue Form der privaten Erinnerungsproduktion an, die jedoch frühestens ab Mitte des 20. Jahrhunderts zum Massenphänomen werden sollte.
Ein glücklicher Fund
Lavanchy-Clarke blieb bis zu seinem Tod 1922 eng mit Lever verbunden. Als Verwaltungsratspräsident stand er bis 1920 dem französischen Produktionszweig von Levers Seifenimperium in Marseille vor. Auch an seinem Engagement für Blinde und Taubstumme hielt Lavanchy-Clarke fest, so dass er um 1906 einen faszinierenden Briefwechsel mit dem angeblichen Erfinder eines neuartigen Systems zur Bildtelefonie unterhielt: Von dem sogenannten «Televue» erhoffte sich Lavanchy-Clarke eine Möglichkeit zur Fernkommunikation mit Gebärdensprache. Televue-Erfinder J. B. Fowler aus San Diego bat Lavanchy-Clarke wiederholt um Kapital für die Patentsicherung, konnte jedoch nie einen Beleg für die Funktionstüchtigkeit seiner Apparatur liefern.
Am 11. Mai 1922 starb Lavanchy-Clarke in seinem Haus in Cannes im Alter von 74 Jahren. Er wurde auf dem Cimetière du Grand Jas in Anwesenheit seiner Familie und Freunde beigesetzt. Sein Vermächtnis von nahezu 50 Filmen wurde in den 1990er Jahren von seinem Enkel Jack Lavanchy wiederentdeckt und an das Centre national du cinéma et de l’image animée in Bois d’Arcy übergeben.
Literatur:
Anonym 1922 : “The Cinema and Sunlight Soap”. In: Progress Vol. 122, Nr. 155, April 1922, S. 89-90.
Cosandey, Roland und Jean-Marie Pastor 1992: "Lavanchy-Clarke: Sunlight & Lumière, ou les débuts du cinématographe en Suisse." Equinoxe Nr. 7, printemps 1992, S. 9-27.
Frauenfelder, Consuelo 2005 : Le temps du mouvement. Le cinéma des attractions à Genève (1896-1917). Genève: Presses d’histoire suisse.
Leverhulme, William 1922 : «Monsieur F. H. Lavanchy-Clarke ». In: Progress Vol. 122, Nr. 155, April 1922, S. 120-121.
Loiperdinger, Martin und Roland Cosandey (Hg.) 1992: Archives 51: Institute Jean Vigo, Cinémathèque de Toulouse.
Merle, H. 1882 : Bericht übern IV. Blindenlehrer-Kongress zu Frankfurt am Main am 24., 25., 26., 27. und 28 Juli 1882. Frankfurt a. M.: Verlag des Kongress-Komitees.
Näf, A. 1880: Das Loos der Blinden und Taubstummen. Separatabdruck aus der «Schweizerischen Zeitschrift für Gemeinnützigkeit». Zürich: J. Herzog.
Eine ausführliche Biografie Lavanchy-Clarkes findet sich in Hansmartin Siegrist 2019: Auf der Brücke zur Moderne. Basels erster Film als Panorama der Belle Epoque. Basel: Christoph Merian Verlag. S. 148-228.